Filmkritik Longlegs

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Was ist von einem Film zu halten, der ständig mit Meisterwerken wie Das Schweigen der Lämmer oder Sieben verglichen wird, mitunter auch mit Zodiac? Immerhin darf man Großes erwarten – und das liefert der phänomenale Horrorthriller Longlegs in jeder Hinsicht.

Permanente Beunruhigung als Konzept

Dabei hat Longlegs genug eigenen Stil, dass es den Vergleich mit großen Werken der Filmgeschichte nicht braucht. Longlegs von Regisseur Osgood Perkins ist ein Meisterwerk der Atmosphäre. Verunsicherung, das Gefühl von Vereinzelung und Unsicherheit durch Unwissen sind die zentralen Aspekte, die im formal hochkarätig umgesetzten Longlegs entscheidend sind. Dieses Konzept wird von der ausgezeichneten Kameraarbeit, dem hervorragenden Set-Design sowie einer immersiven Soundkulisse getragen.

Selten hat man sich ausufernden Breitbildaufnahmen von Innenräumen so verloren, so hilflos gefühlt. Das haben wir mit FBI-Agentin Lee Harker (Maika Monroe) gemeinsam, der verschlossenen FBI-Agentin, über die wir anfangs nichts wissen. Perkins Film lässt ihre Persönlichkeit diffus und öffnet damit einen Bedeutungsraum, so groß wie die sensationellen Bilder, die Kameramann Andres Arochi findet.

Vereinzelung in leeren Räumen

Subjekte stehen in der architektonischen Strenge und des geometrischen Bildaufbaus stets mittig, umgeben von häufig leeren Räumen mit ihren Winkeln, Geraden und Schatten. Sie sind vereinzelt und einsam in einer weiten Welt, die bedrohlich wirkt. 

Perkins hat uns bereits in seinem letzten Film Gretel & Hansel gezeigt, wie wichtig ihm Innenräume sind. Hier überträgt er das Phantastische des Vorgängers in eine reale Welt, was umso verstörender wirkt.

Genau das ist es, was Perkins will: Uns das Gefühl permanenter Bedrohung vermitteln. Sein Longlegs ist maximal auf Atmosphäre ausgerichtet, auf Stimmung, auf Befindlichkeit. Wer einen knalligen Horrorfilm mit heftigen Schocks und Splatter-Effekten sucht, ist bei Longlegs grundfalsch. Die eingesetzten Mittel sind subtiler und entfalten ihre Wucht während der Laufzeit.

Denn Longlegs ist langsam erzählt und träufelt sein Gift ebenso langsam. Jede Einstellung ist lang genug, um suggestive Bedrohlichkeit zu entfalten. Kamerabewegungen sind, sofern sie eingesetzt werden, langsam. So kann unser Auge die Umgebungen in all ihrer Trostlosigkeit erkunden und sich eine Welt erschließen, die viele von uns kennen, die aber nicht die unsere ist: Der Film spielt in den 90er-Jahren, niemand nutzt ein Smartphone. Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die sich auf das verlassen müssen, was sie sehen und was sie anderswo recherchiert haben. Auch wir müssen und ständig fragen, ob wir alles sehen, ob wir alles bemerken. Der Film zeigt viel und doch immer genau das Quäntchen zuwenig, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Das geht schon gleich zu Beginn los, in dem Longlegs tatsächlich auftaucht – aber nicht vollständig.

Trumpfkarte Cage

Nicolas Cage als großer Star des Films taucht in der ersten Hälfte nur ansatzweise auf, überhaupt schlägt seine Stunde erst im letzten Drittel. Wir wollen sehen, wie er aussieht, wollen wissen, was er plant, doch Perkins lässt uns lange Zeit wie seine Hauptfigur Lee im Unklaren.

Das Bild, das zu Beginn gesetzt wird, trägt uns durch die Handlung, wir können uns nur schwer erinnern – und auch in diesem Punkt gleichen wir Lee. 

Aber wenn Cage dann zu sehen ist: ist er eigentlich kaum zu erkennen, so sehr hat das Maskenbild ihn verfremdet. Er spielt seinen Charakter mit großer Bandbreite und teilweise auch mit Cage-typischen Overacting. Wird Longlegs dadurch lächerlich? Keinesfalls: Vielmehr wird uns der Bezugsrahmen entzogen. Es ist unmöglich, den Menschen voll zu erfassen, so groß ist die Bandbreite dessen, was Cage uns als Lonlegs zeigt. Denn auch hier wird uns bewusst ein großer Interpretationsraum geboten. Wir folgen ihm und FBI-Agent Lee Harker durch ein Labyrinth an Andeutungen und Versatzstücken, die vor allem eines erreichen: Die über allem stehende Verunsicherung.

Unberechenbar, ruhig und offen erzählt

Perkins liefert uns mit Longlegs einen unberechenbaren Film, der in seiner ruhigen Erzählweise einer Schnitzeljagd gleicht, in deren Verlauf man nie weiß, was an der nächsten Biegung wartet. Auch am Ende, wenn wir alles wissen, wissen wir nur das Nötigste. Viel Autobiographisches, viele Warums bleiben, und das ist genau richtig so. Man betritt mit Longlegs eine Welt, die, wenn man es denn möchte, noch längst nicht auserzählt ist – und genau das nehmen wir am Ende mit: Fragen, Vermutungen, Erklärungsversuche. 

Ist Longlegs damit der kolportierte „gruseligste Film des Jahrzehnts“? Je nachdem, wie man es nimmt. Longlegs ist in seiner suggestiven, manipulativen Art ein Slow Burner, der verstören und befremden will. Nervenzerrende Spannungseinlagen bietet Longlegs daher nicht. Perkins hat sich zu einem Film mit formalen Ambitionen entschieden, die ein Einlassen erfordern. Das ist künstlerisch genug, um in den Kanon jener Horrorfilme der letzten Jahre aufgenommen zu werden, die das altgediente Genre künstlerisch erweitert haben. Ja, Osgood Perkins ist spätestens mit Longlegs auf der Höhe eines Ari Aster und Robert Eggers angekommen, und Longlegs ist ein Film, der bleiben wird. Er setzt Akzente, die Fans von rüden Slashern und nervenzerfetzenden Schockern ratlos, gar enttäuscht zurücklassen wird. Was dem Film guttut.

Longlegs
USA 2024
Regie: Osgood Perkins
Mit: Maika Monroe, Blair Underwood, Alicia Witt, Nicolas Cage
Länge: 102 Minuten
Verleih: DCM
FSK: 16

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