Filmkritik Anatomie eines Falls

In Anatomie eines Falls geht es um uns, das Publikum. Ob die Schriftstellerin Sandra Voyter  wirklich für den Tod ihres Mannes verantwortlich ist oder nicht, ist dabei nur vordergründig das Hauptanliegen dieses brillanten Films. Die Story dient dazu zu zeigen, wie einfach es ist, unsere Meinung zu ändern, zu beeinflussen, zu manipulieren. Nicht die Wahrheit selbst ist das Entscheidende, sondern die Art und Weise, wie sich Wahrheit in den Köpfen bildet, auch unseren eigenen. Das ist entlarvend und brisant.

Dabei geht der ruhig erzählte Film langsam vor. Im ersten Drittel wird das Fundament gelegt, die Personen gezeigt, natürlich der titelgebende Fall gelegt wie auch die Schauplätze gezeigt. Mit diesem Rüstzeug ausgestattet, lässt uns der Film auf die Suche nach der Wahrheit gehen. Dabei stellen wir immer wieder fest: Können wir objektiv bleiben? Sind wir es jemals? Sandra (Sandra Hüller) gibt uns Anlass zur Sympathie wie zur Ablehnung. Und was ist mit ihrem toten Mann? 

Wahrheit, Wendungen und Finten

Anatomie eines Falls ist weder Kriminalfilm noch Thriller, und obwohl zwei Drittel des 2,5 Stunden langen Films vor Gericht spielen, ist es auch kein typischer Gerichtsfilm. Was ist er dann? In jedem Fall eine Studie über Beziehungen und eigene Wahrnehmung, denn kaum ist man sich sicher, den Fall gelöst zu haben, verdichtet er sich zu einem immer komplexer werdenden Geflecht, in dem wir als Zuschauende selbst verwickelt sind. Immer wieder ändern wir unsere Meinung, lassen uns auf Seiten ziehen und werden letztlich immer verunsicherter angesichts der zahlreichen Wendungen und Finten.

Erstaunlich ist, wie sehr wir schon von Beginn an aufs Glatteis geführt werden. Schon bei der Aussage des Sohnes klar, dass hier etwas nicht stimmt – und dass man vielleicht Entscheidendes nicht mitbekommen hat. Aber was und warum? Wer sich anfangs noch in den Film einfinden muss, kann schon Wertvolles verpassen, auch wenn es nicht so aussieht. Schnell kann man sich die Frage stellen, wer hier wen warum aufs Glatteis führt, oder eben auch nicht.

Kurz: Es ist die Kamera und der Schnitt. Was wir hören und sehen, ist von Drehbuchautorin und Regisseurin Justine Triet sorgsam ausgewählt, um Spuren zu verwischen. Auf gespenstisch ruhige Weise gibt es einen Twist nach dem nächsten. Wo viele Filme auf einen Twist hinauslaufen und seine ganze Struktur und Wirkung aus dieser einen Wendung aufbauen, gibt es in Anatomie eines Falls viele davon. Jeder einzelne ist erstaunlich, gibt der Story ständig eine neue Wendung und Bewertung, und doch wird jeder so geräuschlos wie möglich präsentiert. Keine schnellen Schnitte, keine Musik. Kein Tamtam. Nur Aussagen und vielleicht noch die Reaktion darauf.

Die Dekonstruktion von Wahrheit

Eine äußerst ruhige und fokussierte Kamera bleibt an den Gesichtern und lässt uns fast schon dokumentarisch am Geschehen teilhaben. Große Bilder, die nur fürs Kino gemacht sind, sucht man hier vergebens. Wer hier nach vielsagenden Einstellungen, Metaphern oder Symbolen sucht, wird nichts davon findet. Anatomie eines Falls hat wie das reale Leben keine Metaebene, keine gesellschaftliche Aussage, sondern zwingt uns, uns aus dem Gegebenen eine Meinung zu bilden. Anatomie eines Falls funktioniert auch auf Bildschirmen glänzend, weil die Kamera immer nah genug an Gesichter heran geht. 

Jedes Urteil und jede Zuschreibung wird konsequent in Zweifel gezogen, sodass wir mal diese, mal jene Partei ergreifen und letztlich verunsichert genug sind, um die Suche nach der Wahrheit aufgeben. Deshalb ist auch eine Auflösung, gar ein Beweis dessen, was wirklich geschah und warum, nicht wichtig. Das ist sensationell geschrieben und inszeniert. Triet gewährt uns ebenso nur gewisse Einblicke in Vorgänge und Gedanken, wie es im wahren Leben auch wäre. Was sagt das über die Wahrheit aus?

Mehrfaches Sehen ist sinnvoll

Nach rund 150 Minuten Film steht man vor dem Rätsel, wie alles so hat kommen können. Daher gilt: Ein erneutes Anschauen ist im Falle von Anatomie eines Falles sinnvoll! Denn nicht umsonst regnete es Oscar-Nominierungen in Kategorien, die europäische Filme für gewöhnlich nicht erreichen, wie Bester Film, Beste Regie, Beste Hauptdarstellerin und bestes Drehbuch – für das gab es sogar einen Oscar wie auch einen Golden Globe, der Film selbst erhielt die Goldene Palme von Cannes. 

Alles völlig zu Recht.

Anatomie eines Falls
Frankreich 2023
Regie: Justine Triet
Mit: Sandra Hüller, Swann Arlaud
151 Minuten

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