Filmkritik Arizona Dream

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Ja, der Fisch, der durch manche Szenen schwebt, hat etwas zu bedeuten. Was genau, erfährt man erst in den letzten der gut 140 Minuten von Arizona Dream, diesem schillernden Coming-of-age-Juwel von 1993 voller magischem Realismus, Leitmotiven und Symbolen. Dafür muss man in den letzten Szenen mit Johnny Depp und Jerry Lewis im arktischen Eis unbedingt die Untertitel einschalten – denn in den Szenen wird Inuit gesprochen, was nicht automatisch untertitelt wird. Wer es versäumt, die Untertitel einzuschalten, versteht wahrscheinlich gar nicht, was das Symbol und Leitmotiv soll und was die Botschaft des Films ist. Das hat leider die damalige Veröffentlichung auf Videocassette vermasselt und viele ratlos zurückgelassen. 

Viele Träume und magischer Realismus

Obwohl der Titel Arizona Dreamauf nur einen Traum hindeutet, bekommen wir es in diesem voller magischem Realismus steckenden, vielsagenden Werk von Emir Kusturica mit einer ganzen Handvoll zu tun. Denn jede Figur träumt auf ihre Weise oder hängt eigenen Träumen nach.

Das Ganze ist wundervoll anzusehen, melancholisch, bisweilen auch befremdlich. Und ja, derlei Filme werden schon lange nicht mehr gedreht, schon gar nicht mit Stars wie Johnny Depp, Jerry Lewis und Faye Dunaway. Das machte sie schon in den Jahren 1991 – 1993, in denen der Film produziert und veröffentlich wurde, wichtig. Filme wie Arizona Dream gehören einer ausgestorbenen Gattung an, von der man sich wünschen möchte, sie seien nie aufs Abstellgleis geraten.

Arizona Dream balanciert nicht nur mit besagtem magischen Realismus auf der Kante zwischen Real und Surreal, sondern auch auf der von Drama und Komödie, wobei das Drama eindeutig überwiegt. Der Film schaukelt zwischen seinen Polen hin und her und öffnet einen Raum voller Symbole, Leitmotive, Bedeutungen und Intentionen, die gesehen, entschlüsselt und verstanden werden wollen. 

Anfang der 90er-Jahre als US-französische Co-Produktion ins Leben gerufen, verbindet sie zudem Kunst mit Kommerz: Hier treffen europäischer Kunst- und Autorenfilm auf amerikanischen Independent-Film – und diese Mischung ist so einzigartig wie umwerfend. 

Einzigartige Charaktere

Nichts an Arizona Dream ist gewöhnlich. Jede Figur hat ihren eigenen Traum, ihr eigenes Drama. Alle verhalten sich oft irrational oder handeln in vollem Wissen unvernünftig. Jede hat ihre Geschichte aus der Vergangenheit, die sie bis ins Heute prägt, und alle sind sie einem Leben unterworfen, das einfach passiert. 

Axel (Johnny Depp) ist nach dem Tod seiner Eltern nach New York geflüchtet und fremdelt mit der Rückkehr zu seinem Onkel Leo Sweetie (Jerry Lewis). Der trägt sie Last mit sich herum, für den Tod von Axels Eltern verantwortlich zu sein. Dessen Traum ist es, Autos bis zum Mond zu stapeln.

Axels Geliebte ältere Geliebte Elaine (Faye Dunaway) muss mit der Gewissheit leben, ihren Mann umgebracht zu haben, an dessen Tod ihre Stieftochter Grace (Lily Taylor) so sehr leidet, dass sie ihr Erbe nicht genießen kann und sich umbringen will. Elaine wünscht sich nichts sehnlicher, als fliegen zu können, während Grace davon träumt, als Schildkröte wiedergeboren zu werden. 

Der einzig Unbelastete im Film ist Axels Cousin Paul (Vincent Gallo), der davon träumt, eines Tages ein großer Schauspieler zu sein.

Der Fisch und andere Tiere

Doch was ist eigentlich genau Axels Traum? Der junge Mann gerät in den Mahlstrom der Träume aller anderen, während er selbst lediglich in manchen Off-Kommentaren davon spricht, dass er Fische mag. Und siehe da: Natürlich hat sein Traum mit dem wiederkehrenden Heilbutt zu tun, der erstmals im Intro in der Arktis eine Rolle spielt, zu bestimmten Zeiten im Film durchs Bild schwebt und auch am Ende die maßgebliche Rolle spielt, die alles erklärt.

Überhaupt Tiere: Neben dem Fisch tauchen auch der Hund sowie Schildkröten immer wieder auf. Seelenverwandte oder Seelenbegleiter womöglich? Auch, dass der Baum vor dem Haus von Elaine und Grace auffällig dem aus dem Intro in der Arktis ähnelt, ist natürlich kein Zufall.

Arizona Dream zeigt auch, was Träume sein können: Wege zur persönlichen Entwicklung, aber auch deren Hindernisse. Onkel Leo kommt mit seinem Traum, den er als Autoverkäufer hat, noch einigermaßen gut weg. Er schafft es noch, immerhin etwas am gegenwärtigen Leben zu finden.

Ganz anders bei Elaine und ihrer Stieftochter Grace, die wie ans Haus gekettet einander das Leben zur Hölle machen. Wie Leo sind sie an ihren Ort gebunden, doch empfinden sie hier nichts anderes als reines Unglück, das auch Axels Erscheinen allenfalls unterbrechen kann. Aber was ist mit Axels Entwicklung? Womit wir wieder bei den Tieren wären und dem Fisch. Es lohnt sich, dem auf den Grund zu gehen.

Gesprengtes Budget und Nervenzusammenbruch

Emir Kusturica war Anfang der 90er-Jahre einer jener künstlerischen Shootingstars des europäischen Arthaus-Kinos, dass sich das amerikanische Studio Warner an dem Film beteiligte, um sich mit seinen Lorbeeren zu schmücken. Der Regisseur war kurz zuvor in Cannes als bester Regisseur ausgezeichnet worden, sein Film Time of the Gypsies war für die Goldene Palme nominiert. Arizona Dream blieb sein einziger Film mit amerikanischer Beteiligung, der trotz des erstaunlich prominenten Stars wie Faye Dunaway und Jerry Lewis sowie dem damaligen Shooting-Star Johnny Depp nicht er erhoffte Erfolg wurde. Kusturica überzog das Budget, erlitt während der einjährigen Dreharbeiten einen Nervenzusammenbruch und fiel drei Monate aus, änderte ständig das Drehbuch und ließ die komplette Crew stunden-, bisweilen tagelang warten, weil er nur drehen konnte, wenn er inspiriert war. Auszeichnungen wie den Silbernen Bären der Berlinale gab es dennoch, und Arizona Dream entwickelte sich in den folgenden Jahren immer mehr zu einem Geheimtipp für Filmliebhaber.

Legendär hingegen wurde vom Start weg die originelle Filmmusik von Goran Bregovic sowie der von Iggy Pop gesungene Titelsong In The Death Car, der zum Hit avancierte. 

Arizona Dream
Frankreich/USA 1993
Regie: Emir Kusturica
Mit: Johnny Depp, Faye Dunaway, Lily Taylor, Jerry Lewis, Vincent Gallo
Länge: 140 Minuten
FSK: 16

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