
Goldene Palme, Oscars, mehr als 150 andere Preise: Anora ist einer der großen Abräumer bei Filmpreisen – und man kann es kaum glauben, wie leichtfüßig, beschwingt, ja kurzweilig dieser 140 Minuten lange amüsante Ritt durch Milieus und ihre Unterschiede doch ist. Ist das eine zeitgemäße Neuinterpretation von Pretty Woman, freilich mit mehr Würze und einer enormen Anzahl an Schimpfwörtern? Gerade im ersten Drittel ganz sicher, bevor Autor und Regisseur Sean Baker seine Erzählung ins Tarantioeske führt, ohne seine eigene Handschrift zu verlieren. Das macht Anora aufregend, smart und ungemein unterhaltsam.
Reine Gegenwart mit Tiefe
Das ist ein Kunststück an sich: Die Abgründigkeit und Tiefe so in eine Erzählung zu packen, dass das Resultat charmant und über weite Strecken sogar lustig bleibt.
Das Kunststück weiterhin: Besagte Abgründigkeit und Tiefe dennoch deutlich sichtbar zu machen.
Das hat natürlich mit den Charakteren zu tun, allen voran Anora (Mikey Madison): Selbstbewusst, mit sich im Reinen, selbstbewusst. Nichts deutet darauf hin, dass sie an ihrem Job als Stripperin in einem Nachtclub leidet. Der Film wirft uns mit Schwung in reine Gegenwart, nichts wird mit Blick in die Vergangenheit erklärt. Das ist erfrischend, lernen wir die Figuren doch allein durch ihre Handlungen und Worte in der Gegenwart – so auch Ivan (Mark Eydelshteyn), den 21-jährigen Oligarchensohn, der sich in Anoras Nachtclub eine Frau wünscht, die russisch versteht. Für Anora und Ivan wird diese Bekanntschaft zur Liebschaft, beide heiraten in Las Vegas. Ein echtes Märchen also.
Klassen- und Reifeunterschiede
Die Unterschiede zwischen beiden: Er stammt aus reichstem Haus und gehört damit zu einer seltenen Jet-Set-Oberklasse, die sich alles leisten kann und alles leistet – sie stammt zwar aus bescheidenen Verhältnissen, aber in punkto Reife und Lebenserfahrung ist sie ihm haushoch überlegen. Regisseur Baker erzählt dieses erste Drittel rasant, ohne atemlos zu sein. Die Kamera von Drew Daniels präsentiert und präzise die jeweiligen Umgebungen und damit die herrschenden Klassenunterschiede, Enge, Dunkelheit und schneller Sex auf der einen Seite, lichte Weite, Helligkeit und Ruhe auf der anderen Seite. Man präsentiert uns beide Welten ohne Wertung dessen, was man sieht, und das ist ganz wundervoll. Anora und Ivan sind ein verliebtes Pärchen, das sich trifft und offenbar liebt – ein moderner Pretty-Woman-Traum.
Dass all das kippt, liegt in der Natur der Sache: Denn als Ivans Eltern im fernen Russland von der Hochzeit erfahren, schicken sie ihre Aufpasser zu Besuch, um die Ehe zu annullieren zu lassen – der Klassenunterschiede wegen. Dies ist die Zeit, in der der Film für eine Weile fast cartoonartig wird. Die Aufpasser nämlich sind keine typischen harten Jungs, sondern – nun ja, das sollte man selbst sehen. Es fallen unendlich viele Worte, Fucks und Beschimpfungen, vor allem aber geschieht in etwa der Mitte des Films ein echter Gamechanger, der den künftig antreibt.
Differenzierte Charaktere in Abhängigkeiten
Sean Baker lässt uns Zeuge einer Odyssee werden und führt uns dabei Figuren vor Augen, die abhängig und hilflos sind. Jede Figur einschließlich der „Aufpasser“, haben Charaktere, die man selbst dann nicht hassen kann, wenn sie Böses tun. Anora stellt mit dieser Darstellung das Klischee des harten Jungs auf den Kopf. Die „bösen Jungs“ sind immer wieder hilflose Tölpel voller Angst vor Konsequenzen ihrer Auftraggeber, deren Boss Ivans Mutter ist – knallhart, eiskalt und aalglatt. Wieder so ein Punkt, an dem Anora gängige Klischees unterläuft.
Im Grunde geht es in Anora um Menschen in Abhängigkeiten. Es hat ausdrücklich seinen Sinn, warum die Figur des Ivan auf den ersten Blick blass bleibt: Es ist an uns selbst, das Drama dieses Jungen, seine Ängste und Abhängigkeiten zu finden, zu deuten und zu verstehen. Damit verteilt Anora seine eigentliche inhaltliche und humanistische Wucht über die ganze Laufzeit – sogar bis zur Schlussszene, die etwas ganz Besonderes ist und hier nicht verraten wird.
Anora erzählt von Nötigungen und Unfreiheiten, die die ganze Zeit auf allen Figuren lasten – aber auch von der Befreiung davon und der Freiheit davor – Anora als Person macht es allen vor. Sie ist die reifste Person des ganzen Films: Die junge Sexarbeiterin und Stripperin ist eine selbstbewusste, eigenständig handelnde Frau mit Persönlichkeit, die ihren Weg geht und sich nicht unterkriegen lässt – kein Opfer der Umstände, Milieus oder anderer Menschen, sondern unabhängig und frei.
Alle behalten ihre Würde
Anora lässt den Figuren ihre Würde und ihre Menschlichkeit – abgesehen vielleicht von der Bad-Ass-Oligarchen-Mama, vor der der Oligarch selbst kuscht und die Auseinandersetzung mit ihr scheut. Sie ist der Inbegriff eines Menschen, der sich alles kaufen kann und aus diesem Selbstverständnis heraus auch alles kauft, was bei Drei nicht auf den Bäumen ist. Sie repräsentiert die Welt, für die alles käuflich ist und daher einfach gekauft wird. Es ist Anora, die ihr später in einem brutalen, offenen Satz ihren Sohn charakterisiert. Ansonsten bieten selbst die Nebenfiguren Schattierungen und Graustufen, allen voran der Vasall Igor (Yura Borisov), der allein mit seinem Minenspiel mehr sagt als viele andere im ganzen Film mit Hunderten Worten. Borisov wurde dafür mit einer Oscar-Nominierung belohnt, die er sich verdient hat. Und wenn dann die berührende letzte Szene kommt, die das ganze Tempo des Films erden und auf reinen Humanismus herunterbrechen, muss man wirklich sagen: Das ist wirklich wundervoll.
Der Preisregen kommt also nicht von ungefähr, darunter fünf Oscars, von denen allein Sean Baker vier Stück in Empfang nehmen konnte: Für Regie, Originaldrehbuch, Produktion und Schnitt, den er selbst durchführte. Die fünfte Trophäe erhielt – überraschend für manche, doch zu recht – Mikey Madison in ihrer Rolle als Anora selbst. Gut angelegte und gut begründbare Preise. Anora wird seinen Platz in der langen Reihe herausragender Filme behalten, wo er hingehört.
Anora
USA 2024
Regie: Sean Baker
Mit: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov, Karren Karagulian
Vertrieb: Universal
Länge: 140 Minuten