
Machen wir uns bereit, mit offenen Mündern über diesen wundervollen Film zu staunen – denn ohne Zweifel ist Emilia Pérez eines dieser seltenen Filmwunder, die man gesehen hab muss, um es zu glauben. Was macht diesen Film nur so verdammt großartig? Ist es die eigenwillige, aber auch sensibel und kunstvoll erzählte Geschichte, die Regisseur Jacques Audiard erzählt? Ist es die unkonventionelle Art, die dennoch berührend und packend genug ist, um auch Menschen abzuholen, denen nicht der Sinn nach Unkonventionellem steht?
Ein perfekter Film über Menschlichkeit und Veränderung
Sehr wahrscheinlich, dass es alles gleichzeitig ist, denn alles passt perfekt zusammen. Emilia Pérez erzählt viel mehr als die erstaunliche Geschichte von Manitas del Monte (Karla Sofía Gascón) Boss eines mexikanischen Drogenkartells , der eine Frau werden will und sich tatsächlich umoperieren lässt und zur titelgebenden Emilia Perez wird.
Letztlich ist die Gender-Frage gar nicht der entscheidende Punkt: Stattdessen ist Emilia Pérez eine allgemeingültige, wunderbar leichtfüßig erzählte Geschichte über Menschlichkeit und Veränderung an sich. Anders wäre auch nicht die große Rolle von Avatar- und Marvel-Star Zoe Saldana zu erklären, die dafür völlig zu Recht Oscar, Golden Globe, den Preis für die beste Schauspielerin in Cannes und zahlreiche andere Preise gewann – wenn auch nur als beste weibliche Nebenrolle. Dabei trägt sie den Film maßgeblich und hat bedeutend mehr Leinwandzeit als die titelgebende Figur der Emilia Pérez.
Emilia Pérez erzählt auch die Geschichte von Erlösung durch Veränderung – zutiefst menschlich und humanistisch, der persönlichen Freiheit jedes Menschen verpflichtet. Emilia Pérez ist nicht weniger als ein Brett von einem Film. Knapp 2,5 Stunden verfolgen wir die unglaubliche Geschichte dieser beiden Frauen, in der die titelgebende Emilia Pérez erst nach der Operation des Clan-Bosses und somit erst nach etwa einer Stunde die Filmhandlung betritt.
Wenn Menschen aus Konventionen ausbrechen
Veränderung, das Ausbrechen aus den gewohnten Bahnen: Das ist auch in der Struktur des Films Programm. Deshalb kommt es an einigen – und recht wenigen – Stellen auch zu Musical-Einlagen. Ein Film, der sich mit den Konventionen ebensowenig wohl fühlt wie die Namensgeberin des Films, die gleich zweifach aus ihren Konventionen ausbricht: Sie wird nicht nur zu Frau, sondern leistet Abbitte für ihr vorheriges Leben als Clan-Boss. Wir sehen eine Wiedergutmachung einer Person an ihrem eigenen Schicksal, eine Veränderung, die auch das Leben anderer verändert – wie auch das von Rita (Zoe Saldana). Saldana zeigt hier eindrucksvoll, welch phänomenale Schauspielerin sie ist. Diese Rolle könnte für sie zu einem Gamechanger werden, denn Saldanas Ruhm beruht aktuell noch auf ihren Darbietungen in einigen der erfolgreichsten Filme aller Zeiten: Als Nejtiri in der Avatar-Reihe und als Gamora in der Guardians of the Galaxy-Trilogie, die sie zudem in die Marvel-Welterfolge Avengers: Inifinity War und Avengers: Endgame führte. Emilia Perez könnte sie zur Charakterdarstellerin machen – einen Weg, den schon andere Darstellerinnen und Darsteller durchlaufen haben.
Regisseur Audiard zeigt mit 72 eine Frische und Lust am Experiment, die beneidenswert sind. Es ist seinem Geschick und seiner Sensibilität zu verdanken, dass der Film auch während und wegen der Musical-Nummer nicht ins Alberne abdriftet. Ganz im Gegenteil: Er nimmt seine Figuren in ihrer Gesamtheit ernst. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für ihn ernstzunehmende Meilensteine von Leben, und er lässt die tiefe Sehnsucht und Zerrissenheit seiner Figuren greifbar werden. Sein Konzept geht voll auf.
Musical-Nummern als Bruch mit Gewohntem
So brechen die – wenigen – Musical-Nummern aus den gewohnten Pfaden aus, wie es seine Figuren selbst tun. Allen voran natürlich Emilia Pérez selbst, die wir in ihren ersten Szenen noch als Mann sehen. Und nicht nur als Mann, sondern als Klischee-Drogenclan-Boss mit allen Insignien zweifelhafter, übertriebener Männlichkeit, die man mit solch einem Charakter haben kann. Diesen Macho darüber sprechen zu sehen, dass er gerne eine Frau wäre, ist ebenso rahmensprengend wie die plötzlich im Film auftauchenden Musical-Einlagen. Ihn dann als Frau zu erleben – und nicht mehr wiederzuerkennen – ist der nächste Ausbruch aus Konventionen. Da steht nicht nur einfach eine Frau vor uns, sondern ein Charakter, der mit seiner Vergangenheit brechen möchte. Nicht nur ausbrechen, sondern sie auch wieder gutmachen. Und Rita, anfangs noch gesetzestreue überzeugte Anwältin, die sich erst widerwillig bereiterklärt, dabei zu Helden, entwickelt sich zu einer Vertrauten, die ihrerseits mit ihrem Wissen und ihrer Hilfe Gesetze bricht und damit aus ihrer Rolle ausbricht.
Es ergibt also alles Sinn in diesem so feinfühligen wie überwältigenden Melodram voller Menschlichkeit und tiefer menschlicher Schönheit. Der Bruch, der Ausbruch, führt über neuen Rollen zu neuen Bestimmungen, die das Leben grundlegend verändern.
Ein Film also, den man gesehen haben muss? Folgt man der gängigen Filmkritik, lautet die Antwort eindeutig „Ja“ – ganz anders sieht es bei den Bewertungen gängiger Online-Portale aus. Zwar fährt der Film auch auf Rotten Tomatoes sehr gute Bewertungen ein, ist die Zustimmung auf IMDB.com deutlich schlechter. Was sagt uns das? Dass Online-Portale keine alleinige Referenz sind und immer weniger zur Filmkritik taugen. Gerade bei einem Film mit der Thematik wie Emilia Pérez war zu erwarten, dass er systematisch negativ bewertet wird.
Der mit spektakulären 13 Oscar-Nominierungen als haushoher Favorit gehandelte Film erlitt vor der Preisverleihung allerdings spektakulär Schiffbruch: Ausgerechnet von Karla Sofía Gascón, auch im echten Leben Transfrau, kamen rassistische, islamfeindliche und impfskeptische Beiträge auf X ans Licht. Netflix, in Nordamerika Verleih des Film im eigenen Kanal, schloss sie daraufhin von der weiteren Oscar-Kampagne aus. Der Wirbel darum mag auch dafür verantwortlich sein, dass der Film letztlich nur 2 Oscars gewann.
Letztlich bleibt festzuhalten: Emilia Pérez ist und bleibt in jedem Fall einer dieser Filme, bei denen man etwas versäumt, wenn man ihn nicht sieht.
Emilia Pérez
Frankreich 2024
Regie: Michel Audiard
Verleih: Neue Visionen
Mit: Zoe Saldana, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez
Länge: 130 Minuten