Filmkritik Heretic

Filmkritik Heretic - https://der-filmgourmet.de

Nicht nur der Glaube der Mormonenschwestern Barnes (Sophie Thatcher) und Paxton (Chloe East) wird in Heretic auf die Probe gestellt. Auch unser Glaube als Publikum über Deutungshoheit und Gewissheit wird geprüft. Immer wieder sind wir in diesem hervorragend hinterhältigem Psychothriller sicher, Schwächen des Drehbuchs auf die Schliche gekommen zu sein – doch dann stellt sich erneut heraus, dass man uns überführt hat. Das macht Heretic so besonders: Die beiden Missionarinnen sind nur ein Vehikel, um uns die gleiche Frage zu stellen wie ihnen: Bist du sicher? Damit zieht uns Heretic gekonnt immer wieder den Boden unter den Füßen weg und macht den Film unberechenbar. Solche Filme darf es gerne häufiger geben.

Erwartungen werden raffiniert unterlaufen

Was ist eigentlich die Wahrheit? Es ist selten, dass ein Horrorfilm oder Psychothriller solch eine große Frage stellt. Aber genau darum geht es in Heretic. Erwartungen an Film, Verlauf und Ausgang muss man bei Filmstart abgeben, denn sie werden nicht erfüllt werden. Daran ist man vom Studio A24 seit Jahren gewohnt. Hier geht es um mehr als auf der Leinwand vordergründig ersichtlich. Heretic knöpft sich Religionen aller Art vor und ist dabei nicht zimperlich. Religiöse Menschen sollten sich dreimal überlegen, ob sie diesen Film sehen wollen, der den Häretiker schon im Titel trägt. 

Das Spiel mit der Wahrheit

Was Mr. Reed (Hugh Grant) sagt, hat Hand und Fuß, stimmt aber dennoch nicht immer. Seine gelehrten Ausführungen enthalten zahlreiche Unwahrheiten, wenn nicht sogar Lügen. Hugh Grant macht in diesem bodenlosen Thriller alles richtig. Er bewahrt sein über Jahrzehnte tradiertes Image eines Sunnyboys mit üblichem Hugh-Grant-Lächeln, verquickt dies aber mit Lüge, Durchtriebenheit und Boshaftigkeit. Die Entscheidung der Regisseure Scott Beck und Bryan Woods, ausgerechnet Grant diese Rolle anzuvertrauen, war perfekt. Grant, ein Sympathieträger, spielt mit dem Sympathievorschuss, den auch seine Rolle im Film bei den missionierenden Schwestern erhält. Lächeln, Höflichkeit, Kuchen, Witzchen: Die Fassade passt tatsächlich zur Person Hugh Grant selbst, der immer wieder betonte, wie leid er es sei, immer die gleichen Rollen zu spielen. 

Das Fantastische: Grant bleibt sich seinen Rollen vordergründig treu, um es ins Boshafte zu verzerren. Höflich bleibt der „nette Mann von nebenan“ fast die ganze Laufzeit des Films hindurch. Das ist verstörend. Wir haben es bei seinem Mr. Reed mit einer Person zu tun, deren physische Präsenz deutlich hinter seiner psychischen zurückbleibt. 

Das zeigt sich auch an der scheinbaren Abwesenheit von Zwang. Sicher, Reed verschließt die Vordertür, stellt den beiden Missionarinnen jedoch frei, sich für eine der beiden Türen zu entscheiden. Hinter einer, so seine Versicherung, liegt die Freiheit. Dass beide nicht losstürmen, sich genretypisch wehren, handgreiflich werden oder mehr ihr Schicksal in die Hand nehmen, ist übrigens kein Nachteil des Drehbuchs, es ist ein Kniff, der später – soviel Spoiler muss sein – im Film noch aufgelöst werden wird.

Dialoglastige Kultur- und Religionsgeschichte

Was alle Fans von knalligem oder blutigem Horror und Splatter wissen sollten:  Horror im klassischen Sinne ist Heretic nicht. Dafür gibt es viel zu viel Dialog in Heretic – und der hat es in sich. Nicht nur die schiere Masse an Text ist ungewöhnlich, sondern auch sein Niveau. Da wird minutenlang über Religion, Religionsgeschichte und Kulturgeschichte gesprochen, werden intellektuelle Fragen gestellt und Wissen entweder abgefragt oder vermittelt. Ja, Heretic kann als akademischer Thriller gelten. Und als solcher funktioniert er fantastisch. 

Die größte Zeit des Films ist wie ein Kammerspiel, dessen Umgebung klar umrissen ist. Die Kamera zeigt stets genau, was die Protagonistinnen sehen. Zwar wird es im späteren Verlauf des Films auch dunkle Abgründe geben, aber die meisten spielen sich in Dialogen und Personen ab. Das Haus, in dem die Handlung spielt, kann durchaus als Symbol für seelische Abgründe gelten, mit denen wir es hier zu tun bekommen. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. 

Wendungen am laufenden Band

Spannung erzeugt Heretic dennoch durch die passiv-aggressive Grundstimmung, die wie ein Dunst über den Szenen liegt. Mr. Reed hat etwas vor – aber machen wir uns keine Illusionen: Was es ist, werden wir bis zum Schluss ebensowenig herausfinden wie die beiden Mormoninnen. Die Anzahl der Wendungen nimmt kontinuierlich zu, wir gehen dem Geschehen und Mr. Reed immer mehr auf den Leim.

Das Ganze ist so ungewöhnlich wie brillant, getragen von einem hervorragenden Cast, der sich wie in einer heimleigen Petrischale bewegt. Am Ende, wenn wir das Experiment kennen, dem wir zugesehen haben, ist die Frage zulässig, wie all das nur hat passieren können. 

Was Heretic zu einem ganz außergewöhnlichen Film macht, ist die Art, wie er das Publikum manipuliert. Immer wieder erkennt man offensichtliche Mängel der Geschichte und mag sich darüber aufregen oder freuen. Doch ach: Man wird letztlich nur entlarvt, neunmalklug gewesen zu sein, weil man sich zu schnell festgelegt hat. Das macht Heretic auch zu einer Art Meta-Film. Ein mehrmaliges Anschauen des Films lohnt daher in jedem Fall.

Dass so etwas von A24 kommt, verwundert nicht. A24 ist völlig zu recht ein Label für sich und steht für qualitativ hochwertige Erzählungen und filmische Erfahrungen. Heretic ist nur ein von vielen, hervorragenden Beispielen.

Heretic
USA 2024
Regie: Scott Beck, Bryan Woods
Mit: Hugh Grant, Sophie Thatcher, Chloe East
Studio: A24
Länge: 110 Minuten
FSK: 16

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert