Filmkritik May December

Was für ein Höllenschlund May December doch ist! Er kommt so sanft daher, doch es brodelt in jeder Sekunde. Denn wie zu Beginn des Films ein Paket mit Kot auftaucht, stinkt es gleich von Anfang an in der vordergründig hübschen Kulisse gewaltig. May December ist ein großartiger, großer Film außerordentlicher Komplexität mit zwei sensationellen Hauptdarstellerinnen, der lange beschäftigt und nachwirkt. Ein anspruchsvolles Filmjuwel!

Alles nur Fassade

Schauspieler, Spiegel, Schminke: In May December dreht sich alles um die Diskrepanz zwischen äußerem Schein und innerem Sein. Nichts ist so, wie es scheint, alles ist nur Oberfläche: Die eigenwillige Optik einer 90er-Jahre-TV-Soap. Die überstrahlten, weichen Bilder. Das Lächeln. Aber auch die Motivationen und Hintergedanken. Die hübsche Umgebung, das hübsche Haus ist nur Schauplatz innerer Spannungen und unterdrückt ausgelebter Gefechte und Verwerfungen. 

May December ist von Beginn an eigentümlich unangenehm. Da liegt etwas in der Luft, da stimmt etwas nicht – und auch wenn wir glauben, das Ganze geknackt zu haben, müssen wir feststellen: Um Twists und ihre Auflösung geht es letztlich gar nicht. 

Schauspielerin Elisabeth (Natalie Portman) soll in einem Film Gracie (Julianne Moore) porträtieren. Diese hat vor 20 Jahren als 36-Jährige eine Affäre mit dem 13-jährigen Jungen Joe begonnen. Dafür kam sie ins Gefängnis, blieb mit dem Jungen zusammen, bekam in Haft von ihm die ersten Kinder und lebt mit ihm nun verheiratet mit den gemeinsamen Kindern in einem Strandhaus. Um sich auf die Rolle vorzubereiten, verbringt sie einige Zeit mit Gracie und ihrer Familie und schaut genau hin. Doch eine freundschaftliche Beziehung ist das nicht. Für Elisabeth ist es ein Job, für Gracie die Möglichkeit, aus ihrer Lage Kapital zu schlagen und ihr Ansehen zu steigern. Sie umsäuseln einander zwar mit höflicher, aber erkennbar gespielter Freundschaftlichkeit, die zeigt: Die beiden liefern sich ein verstecktes Duell mit harten Bandagen.

Bleiben Sie achtsam!

Schon in den ersten Minuten spricht eine Nachbarin eine deutliche Warnung aus: „Bleiben Sie achtsam!“ Damit ist nicht nur Elisabeth gemeint, sondern auch wir als Publikum! Wir müssen genau hinschauen, um durchzublicken. Dabei ist die Story selbst nicht das Entscheidende, sondern die Art, wie und warum die Menschen agieren. Wir müssen auf Kleinigkeiten achten, auf Blicke, auf Worte, auf Aussprache. 

Wer sagt was wann wo zu wem? Wie, wann und wo verändern sich Sprache und Verhalten? May December nutzt die Story – die am Ende letztlich kaum überraschend ist – lediglich als äußeren Vorwand, um über ganz andere Dinge zu erzählen. Das passt zur Ausrichtung des Films, der gnadenlos doppelbödig ein komplex-subtiles Bedeutungsnetz ausbreitet, das nur sieht, wer hinter die Oberfläche blickt. 

Das gilt übrigens auch schon für den Filmtitel, hinter dessen oberflächlicher Harmlosigkeit etwas ganz anderes verbirgt: Eine Beziehung zwischen Menschen mir erheblichen Altersunterschied. In May December gibt es überall etwas zu entdecken, sofern man hinsieht.

Hat das Leitmotiv des Schmetterlings etwas zu bedeuten, und was vermitteln uns die Szenen vor diversen Spiegeln? Was will uns der schräge Soundtrack sagen? Warum sind manche Szenen mehr oder weniger peinlich?

Verlogen sind sie im Grunde alle: Elisabeth, weil sie zuckersüß echtes, menschliches Interesse heuchelt, Gracie, weil sie ihr gesamtes Umfeld manipuliert und Joe (Charles Melton), weil er sich selbst etwas vormacht. Immerhin wird ihm die Gnade der Erkenntnis im Film zuteil. Welche Schlüsse er daraus ziehen wird, ist ungewiss. 

Das große Kreisen um Wahrheit

Der ganze Film kreist unbehaglich um den Elefanten im Raum: Den sexuellen Missbrauch, die unmoralische Beziehung, der Skandal und das, was daraus erwuchs. Elisabeth spricht über den Film hinweg mit immer mehr Menschen aus Gracies Umfeld und Vergangenheit, um sich ein klareres Bild zu machen. Diese Einblicke bringen immer mehr der Oberfläche zum Einsturz, immer mehr verlieren wir die Gewissheit, Bescheid zu wissen.

Doch wird unser Bild wirklich klarer? Wir erfahren Ausschnitte, allesamt limitiert, subjektiv gefärbt. Eine allgemein gültige Wahrheit erwächst daraus nicht. 

Wir sehen Menschen in einer Welt, die noch im Griff des Skandals von vor über 20 Jahren ist. Er strahlt noch immer Verletzungen aus, die plötzlich aufschießen – wenn beispielsweise Elisabeth in der Schauspielklasse von Gracies Tochter Mary (Elisabeth Yu) darüber erzählt, dass sie die moralischen Abgründe und Fehlbarkeiten an einer Figur reizen: Das tut nicht nur Mary weh, sondern auch uns. May December ist voller Momente, die wehtun, uns manchmal dazu bringen, uns vor Fremdscham zu winden. Die entlarvende Sequenz, in dem Joe mit seinem Sohn Charlie (Gabriel Chung) auf dem Hausdach spricht und man das Gefühl hat, dass da zwei fast Gleichaltrige miteinander zu tun haben. Wenn Gracie mit Joe spricht wie mit ihrem Eigentum. Wenn er sie letztlich mit seinen Zweifeln an der Beziehung konfrontiert und sie ihm das Wort abschneidet und im Mund herumdreht. Wenn Elisabeth vor der Schauspielklasse über ihre Einstellung zu Sexszenen spricht.

All das macht May December so gottlos, so bodenlos. Was hübsch aussieht, ist ein Höllenfeuer. 

Regisseur Todd Haynes hat schon mit seinen genialen Filmen Dem Himmel so fern und Carol große Filme über Frauen gemacht – mit May December setzt er dem Ganzen die Krone auf. Mit den zwei Oscar-Preisträgerinnen Portman und Moore hat er das perfekte Duo, das die vielen Ebenen und Lagen des Films grandios umsetzen. 

Ein Film mit Sogwirkung – spektakulär!

May December
USA 2023

Regie: Todd Haynes
Mit: Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton, Elisabeth Yu, Gabriel Chung
Verleih: Wild Bunch
Länge: 113 Minuten
FSK: 12

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