Filmkritik Poor Things

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Was für eine Wundertüte! Poor Things ist einer dieser Filme, die man für alle Zeiten lieben kann: So vollgepackt mit originellen Wundern, erstaunlichen Ideen, spritzigem Humor, großen Schauwerten und unkonventioneller Erzählweise begeistert das neue Werk von Giorgos Lanthimos ein Publikum, das sich einzulassen versteht auf eine Erzählung, die es so noch nie gab. 

Ein eigenwilliges Knallbonbon

Wo soll man anfangen: Der großartigen Emma Stone, die für ihre Rolle verdient ihren zweiten Oscar gewann? Der kreativen Regie? Der unkonventionellen Erzählung? Den rauschhaften, teils riesigen und vor Details überquellenden Sets? Man käme an kein Ende, dieses eigenwillige Knallbonbon an Film zu loben, der bei all seinen Vorzügen auch eines versteht: All jene zu vergraulen, die es lieber gewöhnlich, normal und gefällig wollen. Den Rest kann Poor Things hingegen in 2,5 Stunden Enthusiasmus zu versetzen, der auch nach Filmende lange anhält.

Bellas Sicht auf die Welt

Hat man dergleichen schon einmal gesehen? Und was sieht man hier überhaupt in diesem Film, dessen ersten 30 Minuten nicht nur Schwarzweiß sind, sondern der immer wieder verrückte Perspektiven aus einem Fischaugenobjektiv bietet, verzerrte Formen, schrille Töne. Die Welt als Wunderkammer, die so phantastisch wie verstörend und schön ist – sehen wir hier durch die Augen Bellas, die mit ihrer Umwelt nichts anzufangen weiß? Immerhin ist sie anfangs ein Säugling, der sich keinerlei Reim auf die Umwelt machen kann. Da sie im Körper einer Erwachsenen steckt, kommt zudem niemand auf die Idee, sie wie ein Säugling zu behandeln. Bella wird von fremden, irritierenden Eindrücken ebenso überfahren wie wir – das ist ein spannendes, hochinteressantes Filmkonzept.

Wenn es dann in die Farbe wechselt, wird der Film zu einem Rausch an Farben und Formen, nimmt einen mit an skurrile Orte, allesamt wie aus Träumen hervorgezaubert. Das Set-Design schöpft nun noch mehr aus dem Vollen, und es ist überwältigend. Je älter Bella wird und je mehr sie sich ihre Umwelt erschließt, umso konkreter, weniger abgedreht werden die Welten, durch die sie geht. Sie bleiben über den ganzen Film schwelgerisch und überhöht, aber illustrieren Bellas Ermächtigung über die Welt und ihre Deutung. Sie fasst ebenso Fuß in diesen Welten wie wir.

Die Selbstermächtigung einer Person

Bei allem Märchen- und Rauschhaften ist Poor Things ein Film über die Selbstermächtigung eines Menschen, den alle anderen nur für sich sich selbst haben wollen – und dabei mit aller egoistischen Macht manipulieren wollen. Bella muss alles in Rekordzeit lernen, damit ihre geistige Reife zu der ihres erwachsenen Körpers passt: Ihren Körper, ihre Verbindung zu ihrem Körper, sich selbst, Umgebung, Menschen, Gesellschaftsformen und Konventionen, die im ausgehenden 190. Jahrhunderts gelten, in dem Poor Things spielt. Das führt Bella zur Erkenntnis: Sie ist als Frau selbstbestimmt, gleichberechtigt und emanzipiert – in männerdominierten viktorianischen Großbritannien ein Unding. Ihr fehlt durch ihr besonderes Aufwachsen die damals übliche gesellschaftliche Prägung, und sie nimmt sie auch dann nicht hin, als sie ihr von außen angetragen wird. Zu spüren bekommen dann ihr Erschaffer Dr. Godwin („God“) Baxter (Willem Dafoe), der seinerseits Opfer seines Vaters wurde, als auch der schmierige Lebemann Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo). 

Je erwachsener und emanzipierter Bella wird, umso mehr erdet sich der Film von einem skurrilen Märchen mit Steampunk-Anleihen hin zu einem Film über Selbstbehauptung und Feminismus. 

Das ist ein wilder Ritt, nicht nur für Bella. Ob sie nun davon abgehalten werden muss, ein Baby zu boxen, sich am Esstisch selbst zu befriedigen oder einfach kindhaft zu machen, was einem gerade in den Sinn kommt: Das ist alles großartig gemacht und hintersinnig erzählt. Denn das Märchenhafter 

Märchen, Satire, Komödie, eine Prise Horror

Poor Things ist viel mehr ein Märchen mit all seinen Zutaten, dazu erstaunlich explizitem Sex, schrägem Witz und pointierter Satire.

Ein weiblicher Frankenstein, ist oft zu lesen, schließlich wird Bella das Hirn ihres ungeborenen Kindes in den Kopf gepflanzt – und von einem Arzt, der selbst aussieht wie Frankensteins Monster.

Und doch: Das greift alles zu kurz und schiebt den Film in die Art von Horror, die er nicht ist. Schon Frankenstein selbst war mehr als einfach nur Horror – denn was tut ein Mensch wie Stella, in deren erwachsenem Körper ein Säugling zum Menschen heranreift? Was tut ein Mensch, dessen vordergründiger Nachteil ein großer Vorteil ist, nämlich unbedarft und unbelastet von allen gesellschaftlichen Konventionen und vor allem Prägungen zu sein? Die Welt ist dann so erstaunlich und befremdlich wie das, was uns Regisseur Giorgos Lanthimos liefert. Stella hat viel weniger Pech als vielmehr Glück, die Welt so anzunehmen, wie sie sieht, und dabei all jene Grenzen auszuhebeln, die für alle anderen kulturell und gesellschaftlich vorgegeben sind. Wir sehen dann: Diese Regeln sind nichts weiter als Schall und Rauch. 

Und geht es nicht genau darum? Regeln hinter sich zu lassen? Der Film tut es, Bella tut es, und das ist eine wunderbare Sache. Poor Things ist nicht weniger als 2,5 Stunden regelsprengendes Meisterwerk, das die einen ablehnen mögen – die anderen hingegen werden es lieben. So ist großes Kino.

Poor Things
USA 2024
Regie: Giorgos Lanthimos
Mit: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe
Produktion: Searchlight Pictures
Länge: 141 Minuten
FSK: 16

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