Genre-Filme wie Thriller gibt es im deutschen Kino so gut wie nie. Dabei sind sie genretypisch eigentlich perfekt für die deutsche Filmproduktion, denn sie sind auch für wenig Geld zu drehen. Das deutsche Thriller-Drama Schock beweist, dass Thriller „made in Germany“ sehr wohl möglich sind, dass sie günstig zu produzieren sind – und dass sie tatsächlich auch funktionieren. Schock ist versiert gemacht und erzählt, bietet komplexe Figuren und Milieus und ist definitiv das Anschauen wert. Die Produktionsfirma Bon Voyage Films hat zuvor Filmperlen wie Der Nachtmahr und Axiom sowie die Netflix-Serie Das Signal produziert.
Ein Film mit vielen Stärken
Schock erzählt die düstere Geschichte von Bruno (Denis Moschitto), der Menschen behandelt, die nicht einfach ins Krankenhaus gehen können: Prostituierte, aber auch die Gestalten aus kriminellen Milieus. Als einsamer Wolf zieht es ihn schweigend von Einsatz zu Einsatz, bis sich die Dinge zuspitzen.
Die Regisseure und Drebuchautoren Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto machen mit Schock vieles richtig. So ist ihr Film kein reiner Thriller, sondern mehr ein Thriller-Drama, die von ihren komplexen Figuren und ihren Verstrickungen lebt.
Die Story selbst ist zwar simpel, doch unter dem minimalistischen Torso pulsiert ein Leben, das sich nur langsam und über Bande erschließt. Anstatt Biographisches zu erklären, deutet Schock die Dinge nur an und gibt den Figuren sowie dem gesamten Milieu Tiefe und Glaubwürdigkeit. Das ist hervorragend erzählt. Dass sie nicht oder nur ansatzweise beantwortet werden, ist eindeutig eine Stärke des Films.
Wer ist Bruno?
Die Regie von Siegel und Moschitto ist geradlinig, die Kamera bleibt stets am Sujet. Der Realismus überwiegt in diesem Film, er hält sich nicht mit Überhöhungen, Erklärungen und Deutungen auf. Wir sehen Bruno häufig schweigend in seinem Auto, und wir können uns fragen, ob wir einfach einem ernsten und schweigsamen Mann zusehen, oder einer verletzen Seele, der in der Vergangenheit Schlimmes zugestoßen ist. Die wenigen Hinweise legen Letzteres nahe, denn natürlich kann man sich fragen, warum Bruno kein „normaler“ Arzt ist. Warum muss er zur Blutuntersuchung? Warum ist seine Beziehung, die nur kurz anklingt, in die Brüche gegangen? Wieso hat er im Krankenhaus Zugang zu Mitarbeiterräumen, obwohl er dort nicht arbeitet?
Er lebt in einer austauschbaren, gesichtslosen Etagenwohnung, fährt still in seinem Auto von Ort zu Ort und läuft allein auf einem Laufband im Fitnessstudio.
Wer sich auf den Minimalismus der Erzählung von Schock einlässt, entdeckt eine komplexe Hauptfigur sowie ein ebenso komplexes Geflecht an Milieuverbindungen. Schock ist geprägt von einer tiefen Melancholie, ja Traurigkeit. Niemand im Film lacht je, nur Brunos Schwester Laura (Aenne Schwarz) bringt Lächeln zustande.
Masken als Metapher für Distanz und Verunsicherung
Schock spielt während der Corona-Zeit und nutzt die damals allgegenwärtigen Atemschutzmasken als effektives Stilmittel und Metapher für Distanz. Keine der Figuren erfassen wir vollständig, Motive und Intentionen können nicht klar erkannt werden, viele spielen hier ein falsches Spiel, und nie kann man sich sicher sein, alles genau zu erfassen – eine Beunruhigung, Verstörung ist das, die sich wie Blei über alles legen, die sich auf uns überträgt.
Die Schauplätze sind bis auf die Protagonisten stets menschenleer, Bruno scheint auf sich selbst zurückgeworfen. Der Film spielt meist nachts, aber auch die Szenen bei Tag vermitteln nie Behaglichkeit und Freundlichkeit. Schock zeigt uns eine abweisende Welt, eine Welt, die sich von Bruno abgewandt hat – oder von ihr?
Gewalt als Mittel
Für einen deutschen Film zeigt Schock ungewöhnliche Gewalt – wohl dosiert und treffsicher. Ihr Einsatz ergibt im Film Sinn und ist kein bloßer Effekt: Wo Schüsse fallen, fließt Blut. Soviel Realismus muss sein.
So musste die Premiere des Films beim Filmfest München für zehn Minuten unterbrochen werden, weil sie ihn Ohnmacht fiel. Besonders „die Fingerszene“ hat Aufmerksamkeit erregt: Auch hier soll es zu einer Ohnmacht gekommen sein. Das ist in sofern erstaunlich, da auch die berüchtigte Szene gar nicht so brutal ist, wie es den Anschein hat – die Szenen erzielen ihre Wirkungen durch die beklemmende Atmosphäre des Films und die Effektivität, wie sie umgesetzt wurden.
Solche Szenen sind selten im deutschen Kino. Die „Fingerszene“ ist auch ein Kulminationspunkt im Film. Von nun an gibt es kein Zurück mehr und der Film steuert auf sein Finale zu.
Schock, die deutsche Antwort auf Drive?
Gern kommt Vergleich mit Nicolas Winding Refns Klassiker Drive auf. Daran ist Moschitto selbst nicht unschuldig: Er hat erklärt, dass ihm Refns Pusher-Trilogie als Vorbild diente, zu der Drive zwar nicht gehört, aber zu dem es durchaus Parallelen gibt: Beide Filme transportieren eine tragische, melancholische Tiefe und kommen mit wenig Mitteln aus. Beide Filme zeigen einen einsamen, schweigsamen Mann, beide Handlungen spielen viel bei Nacht und Neon, beide Filme haben einen elektronischen Soundtrack und in beiden Filmen erfahren wir über die Vergangenheit der Hauptperson zu wenig direkt. Beide Filme werden von einer tiefen Melancholie getragen, was auch an dem elektronischen Soundtrack liegt.
Dennoch sollte und darf man von Schock keinen zweiten Drive erwarten. Zum einen ist Schock ein eigenständiges Werk, dass keinen Vergleich mit „großen Vorbildern“ nötig hat. Zum anderen will Schock als deutsches Kino gesehen werden, und zwar im besten Sinne – denn natürlich kann, soll und darf ein deutscher Film „deutsch“ sein. So wie es „das europäische Kino“ gibt oder „den britischen Film“, ist es absolut zulässig, wenn ein deutscher Film sich als deutscher Film erkennbar macht. Neben den USA machen das Großbritannien, Frankreich und Dänemark vor, dass national erkennbare Filme auch eine wirksame Marke sein können.
Dass Thriller und alle anderen Beiträge abseits von Komödien, Dramen oder Biopics in Deutschland schwer bis gar nicht zu produzieren sind, ist die eigentliche Schande – schade ist es zudem, dass Filme wie Schock, wenn sie endlich gedreht werden, oft nur in wenigen Kinos laufen und damit unter dem Radar. Dabei wäre doch gerade eine breite Kinoauswertung wünschenswert gewesen.
Der deutsche Film – der übrigens zahlreiche hervorragende, hochwertige und wertvolle Filme hervorgebracht hat – braucht Filme wie Schock, um zu zeigen, was in ihm steckt, wenn man ihn lässt.
Schock
Deutschland 2024
Regie: Denis Moschitto, Daniel Rakete Siegel
Mit: Denis Moschitto, Fahri Yardim, Aenne Schwarz, Patrick Phul, Esra Phul, Daniel Wiemer
Verleih: Filmwelt
Länge: 104 Minuten