Was für ein Film, möchte man schon nach einigen Minuten sagen, die man Reflecting Skin – Schrei in der Stille gesehen hat. Mehr Atmosphäre geht kaum. Hier soll Magie erlebbar werden, die Magie einer Welt durch die Augen eines Kindes. Eine Bildgewalt, eine traumschöne Musik, und mittendrin ein kleiner Junge namens Seth Dove, der durch die endlosen Weizenfelder des Idaho der 50er-Jahre geht und einen Albtraum besonderer Art erlebt. Es gibt wohl keinen zweiten Film, der Kindheit, Verlust und Reife auf solch magische, wehmütige und teilweise auch grausame Weise zeigt dieser außerordentliche Film. So wie es nur wenige Filme, die solch einen Eindruck machen, und die so sehr aus der Aufmerksamkeit gefallen sind wie dieses kleine Meisterwerk der frühen 90er-Jahre mit dem späteren Star Viggo Mortensen als Seths großer Bruder Cameron. Als kleiner Festival-Hit machte er vor 30 Jahren kurz Independent-Karriere und hätte mehr verdient, als beinahe in Vergessenheit zu geraten. Der Streifen war 1990 bei den Filmfestspielen in Locarno für den Silbernen Leoparden nominiert.
Drehbuchautor und Regisseur Philipp Riley führt uns durch eine Geschichte, die unsere Wahrnehmung fordert und belohnt. Wenn man bereit ist, sich auf den Film einzulassen.
Reflecting Skin – Schrei in der Stille bedient sich mehrerer Kunstgriffe: Da ist die Story – düster, aber hoch poetisch. Da ist die Kameraarbeit: der Zuschauer schwebt durch und über die Felder hinweg, suggestive Bilder fangen eine Schönheit ein, die ihresgleichen sucht. Kein Wunder, denn Regisseur Riley ist unter anderem Maler und Fotograf.
Da ist die Musik: elegisch, von Streichern gespielt, ausgefeilt und akzentuiert von gelegentlichen Pauken. Dass der Soundtrack von Nick Bicât nie über ein Label veröffentlich wurde, ist eine Schande – glücklicherweise ist er jedoch auf der Website des Komponisten als CD als auch als Sofort-Download im MP3-Fomat verfügbar.
Vor allem aber ist es die Erzählperspektive, die fesselt: sie zeigt das Geschehen durch die Augen eines 8jährigen, der in einer gottverlassenen Gegend ein Leben lebt, in dem er allein gelassen wird, und aus dem heraus sich eine eigene Sichtweise kultivieren kann: So ist die Nachbarin Dolphin Blue für Seth ein Vampir, immerhin sind es die Comics des Vaters und der Vater selbst, die ihm dieses Bild suggerieren. Seths „Beweise“ dafür sind aus seiner Sicht schlüssig. So wundert es nicht, dass er denkt, sie sauge das Blut seines aus dem Krieg zurückkehrenden großen Bruders Cameron, als der sich in sie verliebt.
Was den Film so faszinierend macht, ist das Zusammenspiel aus kindlicher Naivität und erwachsener Betrachtung. Wer nicht Seths Sichtweise teilen kann, wird den Film kaum begreifen können. Wer daraufhin vergisst, erwachsen zu bleiben, dem entgeht der Hintergrund der Geschichte, der sich nur in Andeutungen erschließt. Wenn Cameron von Bomben im Südpazifik berichtet, ist dies der Grund, warum ihm die Haare ausfallen – und erst so erschließt sich das Missverständnis, dem Seth erliegt. Er begreift die Welt nicht, wie sie wirklich ist, aber seine Deutung davon funktioniert dennoch. Gleichzeitig erfährt der Zuschauer sehr wohl, was wirklich geschieht. Da ist allein der Symbolgehalt der Namen: Seth Dove und Dolphin Blue.
Es ist die Gleichzeitigkeit der Perspektiven, die dem Film seine Wucht verleiht. Er erzählt von dem Ende einer Kindheit und vom Verlust kindlicher Unschuld. Die kindliche Perspektive vermittelt die Schönheit des Albtraumhaften dessen, was das Kind an Faszinierendem nicht begreift. Sie bedient sich nicht der Norm des Erwachsenen, sie ist erfüllt von Schrecken und Staunen.
Die Erwachsenenwelt zertrümmert diese Perspektive und treibt Seth in Einsamkeit: Dass er seinen großen Bruder durch den Blutdurst eines Vampirs verliert, versteht er.
Die Wahrheit jedoch ist eine andere und für Seth unverständlich, da er die Motive nicht begreift: Er kennt weder Liebe, noch das Gefühl der Enttäuschung. Hier muss er die Einsamkeit kennen und verstehen lernen, denn niemand ist da.
Am Ende des Films erwacht Seth schließlich aus dem mysteriösen Schrecken der Kindheit. Das, was sich ihm dadurch bietet, ist der Schrecken des Erwachsenwerdens. Im Finale wird er dadurch zu einem Schrei in der Stille getrieben, ein Filmtitel, der dem Originaltitel nicht gerecht wird: The Reflecting Skin, der einen deutlichen Hinweis auf die wahre Geschichte dieses Films gibt. Erst seit einigen Jahren ist eine Blu-ray-/DVD-Veröffentlichung erhältlich, die nun beide Titel kombiniert und immerhin einiges wieder gut macht. Allerdings lässt deren Bild- und Tonqualität zu wünschen übrig. Ganz anders ist da die restaurierte Fassung, die jedoch nur den englischem Originalton bietet und auf 2000 Exemplare limitiert in Großbritannien erschien. Erhältlich ist sie allerdings sowohl gebraucht oder über Dritthändler über die gewohnten Plattformen.
Und man muss ihn gesehen haben, auch wenn das angesichts der Unbekanntheit kein allzu leichtes Unterfangen darstellt.
Regisseur Phiip Ridley dreht übrigens bis heute lediglich drei Filme. Nach Reflecting Skin brachte er den eigenwilligen The Passion Of Darkly Noon in die Kinos, viele Jahre später den britischen Film19 Heartless.
Einen deutschsprachigen Trailer gibt es übrigens nicht.
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