Mit Soulist dem Animationsstudio Pixar der erste Film für Erwachsene gelungen und damit der Film der Stunde geglückt. Denn Soul ist ein Novum: Bislang galt die Pixar-Maxime, kindgerechte Filme mit einfacher Story zu erzählen, und sie mit subversivem Witz und intellektuellen Pointen sowie Gags für ein erwachsenes Publikum zu würzen. Soul dreht diesen gewohnten Spieß um und erzählt explizit einen Film für Erwachsene, der auch von Kindern gesehen, aber kaum in Gänze verstanden werden kann. Davon zeugen auch die herausfordernden Jazz-Einlagen im Film. Herausgekommen ist mit Soul der inhaltlich sicher stärkste und komplexeste Pixar-Film überhaupt, auch wenn manche anders sehen dürften. Der Lohn: Wie bei kaum einem anderen Pixar-Film sind Publikum und Kritiker weltweit aus dem Häuschen und vergeben Soul durchweg hymnische Bestnoten. Das ist auch in dieser Filmkritik so.
Treu bleibt sich Pixar seinen gewohnt hinreißenden Figuren, schrägen Einfällen und perfekt platzierten Lachern. Situationskomik beherrscht man bei Pixar. Und natürlich ist Soul eine reine Augenweide. Ursprünglich für die 3D-Auswertung in Kinos produziert, bietet Soul auch ohne 3D eine enorme Tiefenschärfe. Bis in den hintersten Winkel wimmelt es derart photorealistisch, dass man häufig glaubt, in einem real gedrehten Film zu sein. Besonders beeindruckend sind hier die Szenen in der Jazz-Bar, in der die Musiker im Gegenlicht »gefilmt« werden. Hier erinnern erst die Aufnahmen der Protagonisten daran, nicht einen Realfilm zu sehen.
Ganz anders die Szenen auf dem Weg ins Jenseits und dem rundum gelungenen Du-Seminar, einer ominösen Zwischenwelt zwischen Leben und Tod: Hier verlassen sich die Macher auf kubistische Formen, die an Picasso erinnern, als auch auf einfache runde Formen. Hier tobt das Leben eben nicht so zahlreich und differenziert wie unten auf der Erde – und genau auf diesen Kontrast kommt es an.
Worum es in Soul eigentlich geht, bleibt erstaunlicherweise längere Zeit im Dunkeln. Anders als in anderen Pixar-Filmen gibt es hier nicht den einen, klar umrissenen Quest, den die Helden gemeinsam meistern müssen. Ab einem gewissen Punkt hat der Film zwei Quests, die sich auf den ersten Blick widersprechen:
Nachdem der erfolglose Jazz-Musiker Joe Gardner kurz vor dem Gig seines Lebens steht, stirbt er dummerweise bei einem Unfall. Auf dem Weg ins Jenseits aber rastet er aus, versucht zu flüchten und landet schließlich im Mentor-Programm des sogenannten Du-Seminars, in dem er die widerspenstige Seele Nummer 22 auf ihre gefälligste Wiedergeburt auf der Erde vorbereiten muss. Was für ein skurriles Traumpaar: Der, der unbedingt wieder leben will, um endlich durch den feststehenden Gig seiner irdische Existenz Sinn und Richtung zu geben, und die Seele, für genau dieses irdische Leben ein absoluter Albtraum ist. Beide eint, dass sie ihren anscheinend feststehenden Weg mit allen Mitteln sabotieren.
Schließlich landen sie doch beide wieder geboren auf der Erde: Nur dass die lebensfeindliche und lebensmüde Seele 22 in seinem Körper steckt, während er in einer Katze steckt. Und ab da geht die eigentliche Story erst richtig los.
Beide wollen nicht das, was sie haben, sondern das, was der jeweils andere hat: Joe will unbedingt ein Ticket zurück ins Leben, 22 will um jeden Preis verhindern, zurück ins Leben gebracht zu werden. So helfen und ergänzen sich beide idealerweise. Doch das wäre selbst dann zu einfach, wenn Soul als Kinderfilm konzipiert worden wäre. Denn während die Hauptstory von Joe erzählt, der genau weiß, was er will und alles Handeln des Films darauf ausrichtet, ist die Nebenstory die weitaus interessantere: Warum hasst Seele 22 das Leben eigentlich? Soul widmet sich immer stärker diesem Rätsel. Die Auflösung ist dabei recht überraschend und für Kinder wahrscheinlich unverständlich – denn hier geht Soul aufs Ganze und spielt die Frage an das erwachsene, reife Publikum zurück.
Natürlich steckt Soul voller Späße, die auch Kinder bei der Stange halten und für Erwachsene ebenfalls bestens funktionieren. Und dass am Ende alles gut ausgeht, kann man sich denken. Doch etwas Nachdenkenswertes bleibt zurück, und die Moral von der Geschicht ist komplexer und subtiler.
Es ist daher fraglich, wie Soul sich im Kino geschlagen hätte, wäre er jemals wie geplant ins Kino gekommen. Als erster Pixar-Film mit einer schwarzen Hauptperson und unter der Co-Regie eines Afro-Amerikaners (Kemp Powers) wäre Soul ein interessanter Gradmesser geworden, inwieweit die in 2020 in den USA angefachte Rassismus-Debatte und der rassistischen Spaltung der USA Auswirkungen gehabt hätten. Grundsätzlich zeigen sich Pixar und Mutterkonzern Disney diverser als zuvor.
Da im Corona-Jahr 2020 die meisten Kinos der Welt geschlossen blieben, startete Soul im Dezember 2020 exklusiv auf dem Streaming-Portal Disney+. Wer Soul also sehen möchte, muss – zumindest für einen Monat – zahlender Abonnent von Disney+ werden. Günstiger als eine einzige Kinokarte ist das allemal, und es lohnt sich in jeder Hinsicht.
Sorgen um entgangene Einnahmen muss sich Disney mit dieser Strategie nicht machen: Schon im November 2020 hatte der Disney+ über 70 Millionen Abonnenten, die monatlich Geld zahlen. Je nach Abonnement zahlt jeder Nutzer ca. 5,50 Euro oder ca. 6,90 Euro monatlich, was dem Konzern ca. 420 Millionen in die Kassen spült – jeden Monat! Für Neustarts wie Soul muss Disney nicht die üblichen ca. 50 % der Umsätze an die Kinobetreiber abliefern, sondern wirtschaftet für sich selbst. Neue, nun exklusive Leuchtturm-Projekte wie Soul stärken diesen Dienst nur noch weiter.
Dass hat der Gesamtkonzern auch bitter nötig, denn 2020 machte Disney schon wegen der geschlossenen Themenparks und anderer Corona-bedinger Schwierigkeiten einen Milliardenverlust.
Soul – USA 2020 – 100 Minuten – FSK 0 – Regie: Pete Docter, Kemp Powers – Exklusiv auf Disney+