Filmkritik Tár

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Eigentlich dürfte es Filme wie Tár im Kino gar nicht mehr geben: Tár vereint nämlich alles, was nach gegenwärtiger Marktlogik im Kino nicht mehr funktioniert und daher unfinanzierbar ist: Tár ist selbstbewusst intellektuell, spielt im Kunstmilieu – zudem dem wenig beachteten Bereich klassischer Musik – zeigt minutenlange, hochkomplexe Dialoge, die die ganze Aufmerksamkeit erfordern, und ist auch in der Handlung weitgehend offen. Mit dabei: Die Auseinandersetzung mit klassischer Musik, insbesondere der 5. Sinfonie von Gustav Mahler. Tár gibt sich keine Sekunde Mühe, ein möglichst großes Publikum anzuziehen. Das hat ein Film wie dieser auch gar nicht nötig.

Ein Hochamt erstklassiger Erzählkunst für kulturaffines Publikum

Mehr noch: Der Film tut alles, um ein großes Publikum schon bei der Inhaltsangabe abzuschrecken – gut so! Über 2,5 Stunden lang verlangt dieser Film dem Publikum einiges ab. Das tut er mit Stil, Klasse und Bravour – und zelebriert das Kino als Kunstraum für eine gebildete, kulturaffine Zielgruppe, von der man mehrheitlich denkt, es gäbe keine Filme mehr für sie. Und für die ist Tár ein Hochamt erstklassiger Erzählkunst, das jede Sekunde der langen Laufzeit lohnt. Solche Filme gehören, auch wenn sie keine Kassenknüller werden, zur Essenz des Kinos. Es ist wichtig, das solche Stoffe für solch spitze Zielgruppe als hochbudgetierte Werke mit erstklassigem Produktionsstandard produziert werden. Dieses Gegengewicht zum kommerziellen Film ist nötig. 

Tár war also kein Kandidat für großen finanziellen Erfolg an Kinokassen und somit lediglich nur schwer bis überhaupt nicht mehr zu produzieren.

Dennoch: Dieses komplexe, sperrige Monster von intellektuellem Film bringt vor und hinter der Kamera A-Prominenz zusammen und wurde vom weltweit operierenden Major Universal ins Kino gebracht. 

Wer hat es auf Lydia Tár abgesehen? 

Selbst die Story ist sperrig und hat einen besonderen Dreh: Erzählt wird die Geschichte von Machtmissbrauch an Untergebenen – ein hochaktuelles Reizthema, das Drehbuchautor und Regisseur Todd Field allerdings gleich in mehrerer Hinsicht unerwartet angeht. So ist die Person, die ihre Macht missbraucht, eine Frau, nämlich die titelgebende Lydia Tár. Sie ist im Olymp der klassischen Musik angekommen und als Dirigentin ein Megastar. Doch dann werden durch den Selbstmord einer ehemaligen Schülerin Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs laut, und das Verhältnis zu einer neuen Cellistin bringt ihr Privatleben durcheinander. 

Eine Frau als Täterin ins Zentrum der Handlung zu stellen, richtet den Blick auf die Vergehen an sich. Blanchett spielt ihre Figur mit wieder einmal beeindruckender Intensität, die sie erneut als eine der besten Schauspielerinnen aller Zeiten kennzeichnen. Regie und Drehbuch bleiben stets an der Seite von Lydia Tár, ohne auch nur eine Sekunde Mitleid mit ihrem Schicksal aufkeimen zu lassen. Lydia Tár ist blitzgescheit, allglatt und eiskalt. Regisseur Field lässt hier auch den Missbrauch durch James Levine anklingen und überträgt ihn auf eine Frau. 

Wir folgen Lydia Tár mehr als zweieinhalb Stunden in eine Welt der Musik und langen, kulturellen Gespräche, in die sich nach und nach immer mehr die Bedrohung hineinschiebt. Wer ist diese Person, die es auf Tár abgesehen hat? Todd vermeidet Thriller– und Mystik-Elemente weitgehend und bleibt in der designten Welt einer Klasse, von der nur die wenigsten jemals Einblick erhalten. Glücklicherweise verfällt Todd auch nicht dem Impuls, die Welt der klassischen Musikproduktion allzu abgründig darzustellen. Schließlich gibt es im Film einige positiv besetzte Figuren, nicht zuletzt Társ Lebenspartnerin Sharon (Nina Hoss). 

Was wir sehen, ist der Zusammenprall gleich mehrerer Welten. Davon zeugt vor allem ein langer Dialog über Identität zwischen Tár und einem Schüler während einer Masterclass. Der junge Mann moniert, dass er als Person of Colour Probleme mit der Musik weißer, misogyner cis-Männer wie Johann Sebastian Bach hat – eine zeitgemäße Problematik, die Tár in einem so brillant formulierten wie gnadenlos-abwertenden Monolog niederbügelt. Und das ist nur eine der Sollbruchstellen, die der Film aufzeigt. 

Die größte ist natürlich das schleichende Unbehagen, das langsam aufsteigt. Dabei bleibt die drohende Gefahr im Ungefähren, im Film ist kein Platz für große Emotion oder Effekte. Die Frage nach der Person, die Tár immer gefährlicher wird, läuft wie in der Wahrnehmung der Star-Dirigentin eher nebenher, auch wenn die Auswirkungen bereits sichtbar ihr Leben in Stücke reißen. Kein Drama, kaum Emotion: Für das erwähnte kulturbeflissene Publikum ist diese Dosis Ratespiel und Spannung genau richtig, daher funktioniert der Film auch so tadellos. Wie aber sollte er es bei den Beteiligten nicht? 

A-Riege vor und hinter der Kamera

Mit Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett in der Hauptrolle ist jeder Film geadelt. Wie Tilda Swinton ist Blanchett immer an hochkarätigen Filmen interessiert, bei denen künstlerisches Engagement über wirtschaftlichen Interessen steht. Mehr als 70 Auszeichnungen regneten auf den Film herab, darunter der Golden Globe sowie der BAFTA Award für Cate Blanchett, wie auch zahllose Nominierungen, von denen die 6 Oscar-Nominierungen die prominentesten sind. Mit Nina Hoss spielt eine der großen deutschen Darstellerinnen einen großen Part, die Musik verantwortete – sofern sie nicht von Mahler, Bach und Konsorten stammen, von Hildur Guðnadóttir, die für ihren epochalen Soundtrack zu Joker zurecht den Oscar gewann. Und nicht zuletzt natürlich Regisseur und Drehbuchautor Todd Field, der mit Tár den ersten Film seit 2006 inszenierte. 

Im Kino war Tár erwartungsgemäß kein Geldsegen beschieden. Kaum mehr als 30 Millionen Dollar kamen weltweit zusammen. Das kann angesichts dieser Story und Herangehensweise auch niemand erwartet haben. Umso wichtiger, dass ein derart hochklassig produziertes Werk möglich ist. Im Kino war diese Filmperle nur in ausgewählten Kinos in Großstädten zu sehen – nun mit der Veröffentlichung fürs Heimkino haben auch alle anderen eine Chance, diesen Leckerbissen zu erleben. Es lohnt sich in jedem Fall.

Tár
USA 2022
Regie: Todd Field
Mit: Cate Blanchett, Mark Strong, Nina Hoss
Länge: 158 Minuten 

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