Filmkritik Tenet - www.der-filmgourmet.de

Wohl noch nie wurde einem Kinofilm so viel Bedeutung beigemessen wie Christopher Nolans Tenet – der als erster großer Hollywoodfilm nach dem mehrmonatigen weltweiten Lockdown die schwer gebeutelte Kinobranche retten soll. Denn nur ein großer Film, der die Massen erstmals wieder zuverlässig in die Kinos lockt, kann ausreichend Umsätze erzielen.

Schon allein aus diesem Grund ist die Frage zulässig, ob man sich den Film als Spende ansehen sollte, um einen Beitrag zur Rettung zu leisten.

Dabei gerät der Film selbst fast in den Hintergrund und seine Rätsel, die er den Zuschauern stellt.

Denn eines ist klar: Auch ohne seine nicht geplante jetzige Bedeutung für die Kinolandschaft im Allgemeinen ist Tenet aus mehreren Gründen mutig. 

Über 200 Millionen Dollar in einen hyperkomplexen Film zu investieren, der 2,5 Stunden höchste Konzentration erfordert und ein Großteil des Publikums in voller Absicht überfordert, ist noch nie gewagt worden. Tenet ist der teuerste Film, der je auf einem Originaldrehbuch basierte. Budgets dieser Größenordnung sind für Fortsetzungen und Adaptionen reserviert.

Natürlich war das Risiko der Warner-Studios gering, einen Flop zu landen, immerhin ist der klingende Name des Regisseurs und Drehbuchautors Christopher Nolan Werbung genug, um zuverlässig Hunderte Millionen an Einnahmen zu generieren. 

Doch treibt Nolan es mit seinen Prämissen, Wendungen und Voraussetzungen in Tenet dermaßen an die Grenzen oder darüber hinaus, dass mit außergewöhnlich vielen negativen Reaktionen zu rechnen war. Und so steht die große Frage im Raum, ob Tenet ein epochales Meisterwerk oder Nolans schwächster Film ist.

Nolans Tenet ist zunächst einmal eine Extravaganz. Das allein macht ihn bereits sehenswert, da Nolan mit seinen Filmen ein bedeutender und benötigter Gegenpol zum McMarvel-Blockbuster-Einheitsbrei ist, der seit Jahren die Kinosäle dieser Welt blockiert.

Es ist wichtig, der hyperhysterischen Dauerunterfordrung des Blockbuster-Publikums Filme wie Tenet entgegenzusetzen.

Nolans Filme kreisen seit jeher um das Thema Zeit, Zeitempfinden und Zeitabfolge. Schon in Memento hat er einen ganzen Film fast vollständig rückwärts erzählt und das Publikum an die Grenzen gebracht – wohl auch, weil er in diesen Film zusätzlich eine chronologisch vorwärtslaufende Handlung mit einbrachte. Mit Tenet greift Nolan dieses Konzept der Verschränkung seines Low-Budget-Films aus dem Jahr 2000 wieder auf und macht daraus einen visuell in jeder Hinsicht beeindruckenden Multi-Millionen-Pseudo-James-Bond, den man leider zweimal sehen muss, um wohl wirklich alle Andeutungen, Gedankengänge und Verweise zu erfassen.

Die grundlegende Idee von Tenet ist zweifellos genial, keine Frage. Es ist enorm elegant, wie Nolan in sein an einen typischen Bond-Film erinnerndes Story-Gerüst knallharte Science-Fiction-Themen verpackt. Weder haben wir es hier mit Weltraum-Einlagen, Raumschiffen oder knalligen, futuristischen Techniken zu tun. Die Welt, die wir in Tenet sehen, ist uns vertraut, so geerdet und in die heutige Realität eingebettet ist das, was Nolan uns erzählt – deshalb wirkt die Verwirrung auch so stark, wenn das Konzept der »Inversion« diese gewohnte Welt immer stärker in Zweifel zieht. Der Kontrast zwischen Gewohntem und Ungewohntem entzieht dem Publikum die Deutungshoheit über die eigene Welt, das eigene Wissen und die eigenen Erfahrungen. Das ist großartig.

Doch Nolan unterlässt leider auch etwas. Er verlässt sich derart auf die rein konzeptionelle Ebene seiner Ideen und ihrer Wirkung, dass er an für das Verständnis der Handlung wichtigen Stellen verwirrende Nebelkerzen einsetzt. Den Zuschauer mit der Frage »Wie kann denn das sein?« herauszufordern, ist per se richtig und Nolans große Stärke – in Tenet muss aber immer wieder lediglich ein einziger Satz ausreichen, um ein ganzes komplexes Gebilde zu umreißen. Dass das letztlich doch zu wenig ist, kann man dem Film also durchaus vorwerfen. Anders ausgedrückt: Nolan mag zwar keinen Fehler innerhalb der Filmlogik begehen, jedoch geht er zu schnell vor, wenn es um das Verständnis der Dinge geht.

Während man noch damit beschäftigt ist, die Komplexität dessen, was Sache ist, zu erfassen, befindet sich der Film bereits einen Schritt weiter und in der Handlung, die aus dem vorher Gesagten und noch nicht ganz Verstandenen folgt. In der Laufzeit häuft Tenet also Fragen auf, die man sich kaum merken kann, um sie nach dem Film noch einmal durchzugehen.

Nolan hätte es in Tenet dem Publikum also auch etwas einfacher machen können, ohne dem Konstrukt, der Prämisse und der Story zu schaden. Nun ist Nolan zwar nicht der Mann, der Filme macht, in der man alles auch noch dem Unaufmerksamsten erklären muss, als wäre man sechs Jahre alt, und das ist auch gut so. An mancher Stelle aber ein Satz mehr, eine Pause nach einer Enthüllung oder ein kurzer Dialog hätten der Komplexität keinen Abbruch getan, die Handlung aber nachvollziehbarer gemacht.

Mit dieser Herangehensweise geht auch die Auflösung des Ganzen in größerem Maße unter, als es hätte sein müssen. Erst gegen Ende des Films, wenn man bereits heillos angestrengt dem Finale entgegensieht, kommt der wahre Grund all dessen ans Licht, die Antwort also auf die Frage: Warum greift die Zukunft auf diese Weise in unsere Gegenwart ein? 

In Inception und Interstellar waren solche Fragen relativ frühzeitig klar, die Motivationen der Protagonisten brachte emotionale Nähe und Nachvollzieharkeit der Mission – warum nicht in Tenet

Dass Christopher Nolan mit Tenet ein großer Wurf gelungen ist, ist ausgemacht, daran ändern auch die Dinge nichts, über die man sich kritisch äußern kann. Für Filme wie Tenet wurde das Kino erfunden, und Nolan weiß das auch. Tenet erweitert den Raum des Erzählens maßgeblich, dafür verdient er Lorbeeren. Nolan versucht nicht einfach, etwas Neues zu erschaffen, Nolan erschafft etwas Neues. Einen Film wie Tenet hat es in der ganzen Filmgeschichte noch nicht gegeben – und er ist derart selbstverständlich über viele Kritik erhaben, eben weil er Neues wagt. Wie Tenet auch visuell die Wahrnehmung des Publikums hinterfragt und mit zahlreichen Finessen den Boden der Tatsachen entzieht und verunsichert, ist beispiellos. Nein, Tenet ist nicht einfach. Tenet ist herausfordernd und verweigert sich selbstbewusst dem schnellen Zugang. Das bringt dem Film für Nolans Verhältnisse ungewöhnlich viel und ungewöhnlich heftige Kritik ein. Nolan dürfte es es geahnt haben und dem Ganzen gelassen entgegensehen.

Tenet wird ein Film sein, über den man noch lange sprechen wird. Da gerade in den USA in ganzen Regionen die Kinos weiterhin geschlossen haben und weltweit die Corona-Bedingungen keine vollen Häuser erlaubt, hat Warner das Verleihfenster im Kino erheblich erweitert. Er läuft konkurrenzlos, da nicht nur andere Studios die meisten ihrer Filme auf 2021 verschoben haben, sondern auch Warner selbst mit Verschiebungen von z. B. Wonder Woman 1984 auf Weihnachten 2020 selbst dafür sorgt, dass Tenet über lange Zeit der Platzhirsch bleiben wird. Erst im November ist mit dem von April verschobenen 25. Bond Keine Zeit zu sterben ein nächster großer Konkurrent zu erwarten. 

4 Replies to “Filmkritik Tenet”

  1. … wir waren / sind etwas überrascht, das sie FSK hier bei 12 liegt. Hier sollte aus unserer Sicht dringend nach justiert werden. Mal abgesehen von der gesamten Dynamik, die einem Erwachsenen schon ins Grübeln bringen, ist er doch an einigen Stellen aus unserer Sicht eine deutliche Überforderung für Kinder im Alter von 12 Jahren. Also für uns leider kein Film zum mehrfachen Anschauen. 😇

    1. Tatsächlich? Mit der Überforderung sehe ich das zwar ganz genau so, aber die FSK bewertet ja, ob ein Film für Altersstufen z.B. zu gewalttätig ist und nicht, ob der Film zu kompliziert ist. Aus meiner Sicht geht unter dieser Prämisse FSK 12 durchaus in Ordnung.

  2. „Nolan mag zwar keinen Fehler innerhalb der Filmlogik begehen… “ leider macht er sogar viele Fehler innerhalb seiner Logik.
    Löcher in der Scheibe, Schusswunde im Arm des Protagonisten aber Kat wird erst als die Kugel abgefeuert wird verwundet.
    Das invertiette Projektile aufgefangen werden macht keinen Sinn, wenn alles deren ivertierten Projektile von ivertierten Waffen abgefeuert werden. Ausserdem was ist mit den Patronenhülsen?

    1. Das habe ich mich auch gefragt, als ich den Film gesehen habe, muss ich sagen. Ich denke aber, dass das keine Löcher in der Logik sind, sondern mangelnde Transparenz in der Darstellung. Aber belegen kann ich das tatsächlich nicht.

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